William bei LEHO – Indien

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Erster Bericht meines weltwärts-Jahres in Indien

William Mehl, Leh, Ladakh, Indien, 21.12.2022

Einleitung
Mein Freiwilligenjahr hat mit dem Vorbereitungsseminar Ende Juni/Anfang Juli begonnen. Dieses empfand ich als äußerst gelungen, es herrschte stets eine sehr angenehme und vertrauensvolle Stimmung. Trotz des notgedrungenen Abbruchs hat das Gefühl der Geborgenheit noch lange nachgewirkt. Am 30. August ging es dann für vier von uns sechs Indern endlich los, leider mussten zwei, darunter mein Mitfreiwilliger Nils, noch länger (unverschuldet) auf ihr Visum warten. Schon während meines ersten Fluges von Düsseldorf nach Paris habe ich meine Aufregung durch Gespräche mit Mitreisenden geteilt, eine Angewohnheit, die noch mehrmals auftreten sollte. Das Wiedersehen am Pariser Flughafen war dann eine große Erleichterung, da wir die gleichen Erwartungen hegten. Nach einem recht angenehmen Flug, der allerdings einige geopolitische Krisenherde vermeiden musste, konnten wir schon das Lichtermeer des riesigen indischen Subkontinents unter uns ausmachen. Unsere Anspannung steigerte sich entsprechend. Als wir das Flugzeug verließen, trafen wir zum ersten Mal auf die unüberblickbaren Menschenmengen, die unseren Aufenthalt in Delhi bestimmen sollten. Wir fanden unseren Weg durch die Passkontrolle, nach der uns allen ein Stein vom Herzen fiel. Mit unserem vollständigen Gepäck in der Hand verließen wir das Flughafengebäude…

Erste Eindrücke

Heiß, schwül, laut und unübersichtlich waren unsere ersten Schritte in Delhi. Nachdem ich zum Glück recht schnell unseren Fahrer ausfindig gemacht hatte, machten wir uns auf den Weg zu unseren Taxis. Meine Mitfreiwilligen wurden umgehend und ungefragt um ihr Gepäck erleichtert, eine Freundlichkeit, die danach aber aufdringlich mit den letzten Euromünzen ausgeglichen werden musste. In zwei Autos aufgeteilt fuhren wir nun zu unserer Unterkunft. Das geordnete Chaos der Stadtautobahn ohne vorhandene (oder beachtete) Spuren wirkte zunächst einschüchternd. Der allgegenwärtige Lärm der Hupen, die unbeirrbaren Trucks und die unvermeidbaren Kühe räumten noch die letzten Zweifel aus, dass ich in einer vollkommen neuen Welt angekommen war. Bald triumphierte jedoch meine Neugier und ich war fasziniert. Jeder Blick aus dem Fenster schien eine eigene Geschichte zu erzählen. Als wir endlich an unserer Unterkunft ankamen, wurden wir mit den fast nicht vorhandenen Englischkenntnissen unseres Vermieters konfrontiert. Mit nachdrücklichen Worten und Gesten haben wir dann aber doch den Schlüssel und das WLAN-Passwort erhalten. Wir waren außerdem sehr dankbar für die Klimaanlage in jedem Zimmer und das gefilterte Wasser. Erschöpft fielen wir kurz darauf in unsere Betten.

Die folgenden fünf Tage in Delhi trafen wir uns immer mit unserer Mentorin Jyoti oder ihrem
Sohn Krishna, durch deren fehlerfreies Englisch und gelassene Freundlichkeit unsere anfänglichen Sorgen schnell verflogen. Wir sprachen viel über unsere Erwartungen, kulturelle Hintergründe und die vor uns liegende Zeit, besorgten unsere SIM-Karten (mit einem unvorstellbaren Preis-Leistungs-Verhältnis), besuchten Märkte und Restaurants und sahen dadurch einen winzigen Ausschnitt dieser riesigen Stadt in einem gigantischen Land. Dieser ruhige Einstieg ergänzte sehr gut die vorangegangene Vorbereitung durch unsere Betreuer Lena und Maxi, sodass uns sicher sein konnten, dass wir bei Problemen jeglicher Art immer ein offenes Ohr finden würden. Die praktischen Informationen boten dabei einen guten Rahmen, wenn auch Indien natürlich niemals auf einfache Beschreibungen heruntergebrochen werden kann.

Ankunft am Einsatzort 

Der Unterschied zwischen Delhi und Leh könnte nicht gewaltiger sein. Auch wenn man nur knapp anderthalb Stunden fliegt, ist man dennoch auf den ersten Blick in einem weiteren unbekannten Land angekommen. Die Reizüberflutung in der Metropole Delhi und die unendlichen Weiten Ladakhs sind aber trotzdem nur zwei Steinchen des indischen Mosaiks. Obwohl ich aufgrund einer schlaflosen Nacht den Flug leider nicht aktiv erleben konnte, war ich dennoch zutiefst beeindruckt von der atemberaubenden Gebirgslandschaft und Ruhe Ladakhs. Ich wurde herzlichst von Tashi, dem stellvertretenden Direktor LEHOs, begrüßt und die kurze Strecke zum Büro und meiner angrenzenden Unterkunft gefahren. Rückblickend war dies wohl die letzte Fahrt, in der ich noch instinktiv nach den Anschnallgurten gegriffen habe, eine mittlerweile abgelegte Gewohnheit. Ich richtete mich in meinem Zimmer ein und machte zunächst einen unvermeidbaren Mittagsschlaf. Danach traf ich beim Mittagessen auf meine zukünftigen Mitarbeiter, eine sehr kleine familiäre Gemeinschaft. Es folgte ein einführendes Gespräch mit Dr. Deen, dem Präsidenten von LEHO, in dem er meine Begeisterung angesichts der Schönheit Ladakhs wohlwollend kommentierte und mir für die nächste Zeit eine Ruhephase verschrieb. Diese verständnisvolle und zuvorkommende Atmosphäre hat meinen Aufenthalt bisher sehr angenehm gestaltet.

Arbeitsplatz

Nach der Eingewöhnungsphase und gewissen koordinativen Schwierigkeiten bei meiner Registrierung bei der Polizei konnte ich mich in verschiedensten Bereichen nützlich machen. Diese beinhalten:

  • Übersetzung deutsch-englischer Dokumente im Rahmen des Entwicklungszusammenarbeitsprojektes zwischen LEHO und Ecoselva
  • Zusammenstellung von Nachweisen der Dokumentation ebendieses Projekts für die Prüfung durch das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ)
  • Umformatierung und Überarbeitung diverser interner Dokumente
  • Erstellung und Verteilung von Werbematerial für von LEHO organisierte Events
  • Teilnahme an Workshops und Fieldtrips und anschließende Erstellung von Berichten
  • Recherche für den Einkauf projektbezogener Materialien

Insgesamt fühle ich mich mit diesen Tätigkeiten ziemlich wohl, da sie recht unterschiedlich sind. Am meisten sagen mir dabei die sprachliche Überarbeitung und die Erstellung eigener Dokumente zu. Allgemein muss ich jedoch festhalten, dass die Arbeitsbelastung stark schwankt. Wie mir Dr Deen auch sehr früh verdeutlicht hatte, würde ich mich häufig selbst beschäftigen müssen. Dies ist dabei kein Problem für mich, da ich mich einerseits mit den Grundlagen der ladakhi Sprache beschäftigen und als „Inder“ recht günstig Bücher kaufen und online Artikel lesen kann. Allerdings erwecke ich damit gegenüber meinen Mitarbeitern häufig den Eindruck, ich sei so beschäftigt, dass etwaige Aufgaben nicht mit mir geteilt werden müssten. Wie auf dem Seminar erklärt wurde, ist die Arbeitsverteilung verglichen mit Deutschland eher als Holschuld anstelle Bringschuld zu beschreiben, es wird also viel Eigeninitiative erwartet. Durch den Besuch von Heiner, dem Vorsitzenden von Ecoselva, und dessen Tochter hat sich jedoch für Nils und mich ein großes eigenes Einsatzfeld ergeben. Durch das angedeutete Projekt, finanziert vom deutschen BMZ, wurden in drei exemplarischen Dörfern jeweils ungefähr 15 Homestays etabliert. Diese sollen Touristen einen authentischen und nachhaltigen Aufenthalt ermöglichen, fernab von den Hotelkomplexen in Leh. Während unserer gemeinsamen Besichtigung wurde jedoch deutlich, dass die tatsächlichen Buchungen nicht in zufriedenstellenden Zahlen erfolgt waren und einige Homestays sogar noch nie Touristen beherbergt hatten. Dies war natürlich teilweise Corona geschuldet, andererseits wurden die Dörfer nicht ausreichend öffentlichkeitswirksam vermarktet. Deshalb haben Nils und ich eigenständig die drei Dörfer bereist und die benötigten Daten erhoben. Er hat dabei mit seiner Kamera und Drohne Bilder gemacht und ich habe währenddessen die Standorte erfasst und Beschreibungen erstellt. Zurück im Büro widmen wir uns nun der Einrichtung der Homestays auf AirBNB und Google Maps. Dabei treten allerdings kommunikative Schwierigkeiten auf, da wir die Zugänge für die örtlichen Ansprechpartner registrieren und deshalb deren Daten brauchen. Häufig werden Anfragen länger ignoriert, mit einem „Ok, sir“ kommentiert und dann fallengelassen oder ungeachtet unserer Hinweise eigene Änderungen vorgenommen, die die weitere Arbeit eher erschweren. Insgesamt ist diese Tätigkeit aber sehr erfüllend und ergiebig. Nichtsdestotrotz fühle ich mich mit diesen Tätigkeiten gut aufgehoben, besonders die dazugehörigen Geschäftsreisen haben mich sehr gefreut. Da Dr Deen und seine Frau die Wintermonate in Delhi verbringen und die Straßenverbindung nach Ladakh auch immer eingeschränkter bzw. bald ganz gesperrt sein wird, nimmt die Auslastung entsprechend ab. Mittlerweile steht die Finanzierung für das Folgeprojekt, für welches aus 25 potenziellen Dörfern 16 mit Homestays ausgestattet werden sollen. Deshalb werden wir bei Gelegenheit an fieldtrips teilnehmen und dabei Ladakh noch weiter erkunden. Momentan kann ich mir keine zusätzlichen Aufgaben vorstellen, zumal unser gemeinsamer Urlaub ansteht.

Lebensumfeld

Meine Erfahrungen waren bisher fast ausschließlich positiv, dennoch möchte ich hier verschiedene
Erlebnisse gegenüberstellen:
Positive Erfahrungen:

  • Morgens aufzuwachen und zunächst nicht die Gemütlichkeit des Schlafsacks verlassen zu wollen. Die benötigte Überwindung wird dafür jedes Mal mit der atemberaubenden Gebirgslandschaft belohnt. Je nach Wetterlage sind die Spitzen von mysteriösem Nebel verhüllt oder die Berghänge stechen durch Schneefall noch stärker heraus. Der
    Sonnenuntergang ist auch ein nie ausbleibendes Spektakel.
  • Sämtliche Ausflüge bzw. besondere Ereignisse mit meinen Arbeitskollegen wie z.B. die
    Einweihung des Tata Motor Showrooms von Leh und eine ladakhi Hochzeit in einem
    abgelegenen Dorf.
  • Sämtliche Ausflüge mit meinem überaus sportlichen Mitfreiwilligen Nils, sowohl
    Wanderungen auf naheliegende Berge als auch Fahrradtouren im Industal.
  • Sehr erfreuliche Gespräche mit Schulkindern im Bus.
  • Ein sehr gutes Verhältnis zu allen Mitarbeitern sowie zu den Kindern der Haushaltshilfe,
    die mit ihr im anderen Anbau neben dem Bürogebäude wohnen.
  • (Noch) viele Auswahlmöglichkeiten, auswärts essen zu gehen. Von modern eingerichteten
    Restaurants mit sowohl lokaler als auch internationaler Küche bis zu „Arbeiterkantinen“,
    in denen es nur ein Gericht gibt, dafür aber äußerst preiswert und mit unaufhörlichem
    Nachschlag.
  • Die Freundlichkeit unserer „Gastfamilien“ während der Geschäftsreisen. Schließlich ist es
    unvorstellbar, als Gast keine Tasse Tee, Kekse oder getrocknete Aprikosen anzunehmen. Auch dann nicht, wenn man den ganzen Tag nichts anderes gemacht hat, als in jedem neuen Haus nach höflichem Verzicht dann doch verköstigt worden zu sein. Vor die Wahl gestellt, welches Abendessen wir gerne hätten, wählten wir das einzig unbekannte. Chutagi stellte sich als Schmetterlingsnudeln á la Ladakh heraus; da für insgesamt acht Menschen gekocht werden musste, war damit ein sehr großer zeitlicher Aufwand verbunden. 

Negative Erfahrungen bzw. Kleinigkeiten:

  • Da ich zu groß für indische Maße bin, finde ich trotz der Unmenge an Kleidungsläden
    kaum etwas für mich und muss oft auf Amazon zurückgreifen. Beim Besuch einer
    Kletterwand mit Bekannten war ich der einzige, dem wie immer kein Schuh passen wollte.
  • Indische Beamten sind unberechenbar. Mal kommen Postkarten nach zwei Wochen an,
    mal gar nicht. Pakete können eine Ewigkeit im Delhi foreign post office verbringen,
    rücksichtslos bei der Zollkontrolle verwüstet werden und dann plötzlich mit dem nächsten
    Flieger in Leh ankommen. (Auch hier ist Amazon leider wieder die bessere Wahl, da deren
    Pakete auch wirklich zu uns geliefert werden und nicht abgeholt werden müssen.)
  • Indische Großunternehmen wie Airtel und diverse Buchungsunternehmen akzeptieren
    kaum internationale Kreditkarten. Die Lösung, natürlich, ist Amazon Pay.
  • Spam. SMS, Push-Nachrichten und Anrufe. Unaufhörlich. Dafür sind die diversen
    Jobangebote, Kreditverträge und Immobilieninserate dermaßen unseriös, dass ich beim
    Lesen gelegentlich Lachkrämpfe bekomme.

Kulturelle Merkmale

Bezogen auf die ladakhi Kultur möchte ich auf zwei verschiedene Haltungen eingehen. Meine
Entscheidung fiel unter anderem auf diesen Einsatzplatz, weil ich vom tibetischen Buddhismus
und der einzigartigen Landschaft fasziniert war. Außerdem bin ich vergleichsweise wenig
kälteempfindlich, dafür aber sehr anfällig für Mücken aller Art, weshalb sich Ladakh umso eher
angeboten hat. Deshalb habe ich mich recht bald nach meiner Ankunft sowohl mit den Grundlagen der Sprache beschäftigt als auch mich nach dem ortstypischen Gewand umgesehen. Der sogenannte Goncha ist eine Art knielanger Wollmantel, der natürlich ideal für das kalte und windige Klima Ladakhs geeignet ist. Trotzdem wird er heutzutage eher nur von der Landbevölkerung, allgemein älteren Menschen oder bei besonderen Ereignissen getragen.
Umso erstaunter sind daher die Reaktionen, wenn ich mit diesem unterwegs bin. Von einfachem Lächeln, gegenseitigen Grüßen und Komplimenten („Matching colours!“ und
„Ladakhi, great!“ sowie „Looking smart!“) bis hin zu ungläubigem Starren ist alles vertreten.
Insgesamt habe ich bisher ausschließlich positive Erfahrungen gemacht, besonders wenn
ich im selben Atemzug auf ladakhi gesprochen und dabei die Hand zum Gruß gehoben habe oder nahegelegene Gebetsmühlen im Vorbeigehen richtig gedreht habe. Am größten war die allgemeine Aufmerksamkeit während des LadakhFestivals (nicht auf dem Bild, dort die ladakhi Hochzeit). Während der rituellen Tänze wurde meine Anwesenheit von den zumeist älteren Zuschauern sehr wohlwollend kommentiert und mein spontanes Mittanzen bei moderner ladakhi Musik mit anderen Jugendlichen wurde beklatscht und bejubelt. Diese anerkennende und ermutigende Einstellung freut mich dabei sehr, da sie einen Gegenentwurf zum zeitgenössischen Vorwurf der „kulturellen Aneignung“ darstellt.
Andererseits gibt es auch Reibungspunkte mit gewissen Verhaltensweisen. Diese lassen sich als Gleichgültigkeit oder übertriebene Leichtigkeit beschreiben. Dass wir kein fließendes Wasser haben würden, wurde uns im Voraus bereits erklärt und ohne weiteres hingenommen. Als wir aber selbst erfahren haben, dass die Anschlüsse in allen Gebäudeteilen vorhanden sind und auch schon funktioniert hatten, die Reparatur eines Lecks aber nie aktiv in Erwägung gezogen wurde, waren wir doch recht verblüfft. Wenn die Infrastruktur nicht existieren würde und daher viel investiert werden müsste, wäre die vernachlässigende Haltung verständlich. Dass aber die Rückkehr zu einem vormals genossenen Standard nicht verfolgt wird, ist doch gelegentlich frustrierend. Ähnliches kann über unsere Wassertanks gesagt werden. Seit zwei Monaten ist das Außenventil kaputt, welches zunächst „vorübergehend“ mit einem Stock gestopft werden sollte. Seitdem hat sich allerdings nichts geändert und das kostbare Wasser tropft unweigerlich heraus. So gehen jeden Tag mehrere Eimerfüllungen verloren, die sonst hätten genutzt werden können. Als die Wasserkocher nach und nach nicht mehr funktionierten, dauerte es auch recht lange, bis immerhin ein Ersatz angeschafft wurde. In der Zwischenzeit mussten wir Trinkwasser immer auf dem Herd abkochen, wodurch auch unnötig viel Gas verbraucht wurde. Auch hilfreiche Informationen über z.B. die Nutzung der Waschmaschine wurden uns leider nicht rechtzeitig mitgeteilt. Während einer längeren Abwesenheit der Haushaltshilfe war diese nicht funktionsfähig, weil augenscheinlich der Strom im Außenbereich ausgefallen war. Auch nach ein paar Tagen erhielt ich keine Antwort auf meine diesbezügliche Rückfrage. Als nach ihrer Rückkehr die Waschmaschine wie durch ein Wunder direkt wieder betriebsfähig war, eröffnete sie uns endlich den Hintergrund. Die Waschmaschine zusammen mit ihrer Haushälfte haben einen dedizierten Stromkreis, der durch
einen Schalter im Hauptgebäude aktiviert wird…

Weitere persönliche Lernerfahrungen

Während des Seminars wurden wir vorgewarnt, dass wir erst im Ausland feststellen würden, wie deutsch unsere Einstellungen geprägt sind. Diese Bemerkung wurde damals mit Humor
aufgenommen, mittlerweile haben wir die tiefergehende Bedeutung erkannt. Es kommen dabei
manche Konflikte mit „deutschen Tugenden“ auf:

Gewissenhaftigkeit und Pflichtbewusstsein:
Als „Ladakh Environment and Health Organisation” erheben wir Anspruch darauf, eine
nachhaltige Lebensweise darzustellen und dadurch die Zivilgesellschaft zu inspirieren. Es gibt
sogar an der Hauptstraße ein Schild mit der Botschaft „Global Warming, We have a solution, Stop pollution“. Nichtsdestotrotz wird bei LEHO (zusätzlich zu den beschriebenen Wasserproblemen) gelegentlich Müll auf dem Gelände verbrannt. Das Hauptgebäude ist ein vorbildliches Solar Passive House aus natürlichen Materialien und guter Isolierung. Die Nebengebäude und das noch unfertige Gebäude im Hof sind jedoch aus Zement gebaut und aufgrund der geringeren Temperatur ist dort die regelmäßige energieintensive Nutzung von Heatern zu erwarten.

Pünktlichkeit und Ordnungsbewusstsein:
Für den Endevaluierung des ersten Projektzeitraumes zwischen Ecoselva und LEHO sollten
Nachweise bereitgestellt werden, um diese dem BMZ präsentieren zu können. Auf die erste
Anfrage wurde zunächst nicht wirklich reagiert. Als dann die Deadline näher rückte, wurde auch
ich in die Problematik eingeweiht und aus Deutschland mit der gewünschten Struktur ausgestattet. Die mir bereitgestellten Dokumente waren jedoch unvollständig, unscharf oder fehlerhaft benannt, weshalb ich sie grundüberholen musste. Die restlichen Nachweise musste ich händeringend und mit Nachdruck einfordern, da der zeitliche Druck nicht anerkannt wurde. Viele Übergaben von Materialien oder allgemeine Zusagen wurden dabei nie dokumentiert, sondern nur mündlich abgeschlossen, sodass ich auf einem äußerst dünnen Fundament eine angemessene Darstellung errichten musste.

Fleiß:
Natürlich ist es sehr angenehm, wenn auf der Arbeit stets eine heitere Atmosphäre herrscht.
Allerdings kommt es häufig vor, dass die Mittagspause zu einem sehr langen und lebhaften
Gespräch ausgedehnt wird und dadurch die Konzentration der anderen stört. Außerdem scheinen ein paar Mitarbeiter nachmittags nicht vor den anderen gehen zu wollen und beschäftigen sich stattdessen lautstark mit ihrem Handy.

Zurückhaltung:
Mehrmals wurde ich darum gebeten, für die Veröffentlichung gedachte Dokumente zu überprüfen. Ich versuche dabei stets, einige Formulierungen der Verständlichkeit halber zu vereinfachen, andere wiederum auszuschmücken. Solche Aufgaben sagen mir dabei eigentlich sehr zu. Nur leider muss ich manchmal feststellen, dass nach getaner Arbeit das Dokument nochmal bearbeitet wurde, wodurch sich neue Fehler eingeschlichen haben und meine Änderungen teils rückgängig gemacht wurden.

Zielstrebigkeit:
Wenn in Ladakh ein Haus gebaut werden soll, wird oft eine gewisse Herangehensweise gewählt. Auch wenn mehrere Stockwerke geplant sind, wird zunächst nur das Erdgeschoss
gebaut und dann mehrere Jahre gewartet. Entweder fehlt den Bauherren das nötige Geld oder sie befürchten, dass ein zu großes Projekt dann doch die Behörden aufmerksam machen
könnte. Ähnliches kann gesagt werden zu der unkontrollierten Menge an Straßenhunden, die nachts sehr laut sein können und tagsüber aus Hunger auch aggressiv. Zwar werden manche
sterilisiert, aber dennoch sind sie überall und müssen verscheucht werden. Besonders das Schicksal der Welpen, die häufig verhungern, erfrieren oder überfahren werden, ist
herzzerreißend.

Angesichts dieser Verhaltensweisen habe ich eine deutlich höhere Toleranz und Geduld
entwickelt. Mittlerweile stelle ich auch an mir selbst fest, dass ich mich mit einer größeren
Gelassenheit meiner Arbeit widme und auch spontane Planänderungen einfacher umsetzen kann.
Auch wenn die Gespräche meiner Mitarbeiter meist auf Ladakhi oder Hindi erfolgen und ich sie
daher nicht verstehe, bleibe auch ich häufiger draußen sitzen und genieße die Sonne in meinem
Gesicht.

Abschließende Bemerkungen

Ladakh als Teil Indiens zu begreifen fällt mir manchmal schwer. Aus historischer Perspektive war das unabhängige buddhistische Königreich auch bezeichnenderweise als „Klein-Tibet“ bekannt. Erst durch den andauernden Kaschmirkonflikt mit Pakistan seit 1947 und China seit 1962 hat Ladakh an Bedeutung zugenommen. Mit der Ankunft der ersten Touristen 1974 hat sich Ladakh noch radikaler verändert. Die einstige Isolation wurde durch den Flughafen in Leh und die Straßen nach Manali im Süden und Srinagar im Westen beendet. Die PKW-Dichte hat stark zugenommen und Hotels wuchsen aus dem Nichts. Der Tourismus konzentriert sich dabei bisher nur auf ein paar Hotspots; die 300.000 jährlichen Besucher (entsprechend der Gesamtbevölkerung Ladakhs) besuchen dabei vornehmlich Leh, das Nubra Valley im Norden, Pangong Lake im Osten und die größten Klöster der näheren Umgebung. Dies führt zur Abwanderung der Dorfbevölkerung zu (un-)gunsten Lehs, exzessivem Resourcenverbrauch ohne Rohstoffkreisläufe, dem Verlust lokaler Kultur und Erzeugnisse und vielem mehr. LEHO will daher mit dem Ökotourismus-Konzept gegensteuern.
Aus politischer Sicht ist Ladakh auch weiterhin eine besondere Region. Die militärische Präsenz in Leh ist nicht zu übersehen. Militärjets und Hubschrauber dröhnen durch den Himmel, Kolonnen an Trucks brettern über die Straßen und Kasernen bevölkern die Straße in Richtung Srinagar. An diese zunächst recht unangenehmen Anblicke gewöhnt man sich aber schnell. Außerdem ist dadurch die interessante Dynamik entstanden, dass aus Familien mit mehreren Söhnen häufig nicht nur ein Mönch, sondern auch ein Soldat hervorgeht, verschiedenere Lebensphilosophien sind schwer vorstellbar.
Des Weiteren genoss Ladakh für die längste Zeit als Teil des Bundesstaates Jammu und Kaschmir eine ungewöhnlich hohe Lokalautonomie, ein Zugeständnis verankert in Artikel 370 der indischen Verfassung nach der Teilung Britisch-Indiens. Die indische Zentralregierung hob diesen besonderen Status 2019 auf und erschuf stattdessen die zwei Unionsterritorien Jammu
und Kaschmir sowie Ladakh. In dieser Verwaltungsform gibt es keine regionalen Parlamente mehr, stattdessen regiert ein von der Zentralregierung ernannter Gouverneur. Als Vorsichtsmaßnahme wurde daher vorübergehend die Telekommunikation ausgesetzt, da besonders in Kaschmir Proteste befürchtet wurden. Dennoch gibt es in Ladakh zwei „Ladakh
Autonomous Hill Development Council“, die gewählt werden und verschiedenste Kompetenzen
haben. Am 31.10 wurde das dreijährige Bestehen des UT Ladakh in Anwesenheit der lokalen Elite gefeiert. Die hochrangigen Gäste bezeichneten diese Reform als den „langgehegten Wunsch“ der Bevölkerung und betonten das Potenzial Ladakhs für die Zukunft, welches sich nun unkomplizierter umsetzen ließe. Außerdem wurden viele Projekte enthüllt, die die  Entwicklung vorantreiben sollen. Ich bin gespannt, inwieweit diese Versprechen umgesetzt werden können und tatsächlich bürokratische Hürden verringert und Kompetenzen gebündelt werden.

Mehr Informationen über den Einsatzplatz findest du hier.