Alice bei der „Fundación La Merced“ in Stanto Domingo – Dom. Rep.

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Einführung

Ich sitze im Regionalzug auf dem Weg zu einem Treffen mit einem ehemaligen Mitfreiwilligen und einem dominikanischen Freund mit seiner deutschen Frau, der gerade zu Besuch im Westen Deutschlands ist, bevor es für ihn wieder zurück in die Dominikanische Republik (DR) geht. Er und ich wären bestimmt dazu bereit, unsere Position zu tauschen: Er bleibt hier bei seiner Frau, ich fliege zurück in mein vorheriges Leben. Allerdings sprechen Vernunft und andere Gesetze im Leben leider dagegen. Ja, eine gute Woche bin ich nun hier in meiner alten Heimat. Das ist auch schön, doch hauptsächlich schwer. Genau wie der Abschied, der eine Woche vor Abflug deutlich spürbar wurde und für mich bisher eine der schwersten Phasen überhaupt war. Zwar hate ich, bevor alles begann einen Vertrag unterschrieben, dass genau diese Situation eintreffen würde, aber was weiß man schon, wenn alles noch vor einem liegt. Jetzt fühle ich mich eher so, als hätte mir eine fiese Gewalt mein so schönes und erfüllendes Leben genommen, um es durch ein leeres, trauriges zu ersetzen. Wieso denke ich so? Um das zu verstehen, hört man sich am besten folgendes Kapitel aus meinem Leben an: Mein weltwärts-Freiwilligendienst in der Dominikanischen Republik 2022/23.

Neues Kapitel

Mit dem Abitur in der Tasche ging es im August 2022 gemeinsam mit einer kleinen Gruppe an Freiwilligen, die ich schon bei einem Seminar kennenlernen durfte, in ein Abenteuer, das für die meisten von uns ein Jahr andauern sollte und sich Dominikanische Republik nannte. Ich war 19 Jahre alt und voller Freude und Neugier auf ein neues Kapitel in meinem Leben.

Arbeit mit Herz

Mein Freiwilligenplatz war das Centro ERA der Fundación La Merced im Westen Santo Domingos, der Hauptstadt der DR. In dem Zentrum für rund 400 Kinder und Jugendliche aus dem vulnerablen Umkreis findet zumeist schulbegleitender Unterricht statt, es wird gespielt, gemeinsam gegessen, es gibt gesundheitliche Verpflegung für die ganze Familie und natürlich auch immer mal wieder Aktivitäten und Veranstaltungen für Klein und Groß.

Gemeinsam mit meiner Mitfreiwilligen Friedi hatte ich eine Vollzeitstelle im Zentrum von montags bis freitags, bei besonderen Aktivitäten auch mal samstags.

Anfangs begannen wir täglich Sport für die kleinen und mittelgroßen Kinder im Zentrum zu unterrichten. Diese Klasse führten wir ein paar Monate durch, bis sie anderweitig übernommen wurde. Wir fokussierten uns hier hauptsächlich auf die Bildung eines Teamgeistes unter den Schüler*innen und das Erlernen von Roune und Disziplin. Für uns war es das erste Mal, an einer Lehrposition zu stehen, und auch für die meisten Kindern waren all diese

Themen neu, denn ihnen fehlt o eine aufmerksame Erziehung zuhause, noch ist ihnen der Zugang zu Schulunterricht gegeben. Wir machten also neben Fortschritten auch Erfahrungen damit, wie es ist, an seine eigenen Grenzen zu stoßen.

Des Weiteren war es Friedis und meine Aufgabe, Englischunterricht für die Jugendlichen zu geben, um ihnen erste Kenntnisse zu übermitteln oder ihr teils Erlerntes aus der Schule zu festigen und zu verfeinern. Unsere Schüler*innen waren diese Form des Unterrichts nicht gewohnt, denn war es erst das zweite Jahr, in dem es im Zentrum Englischunterricht, ausgeführt durch Freiwillige, gab und das erste Jahr in genau dieser Form für Jugendliche. Vor allem zu Beginn ging es also erst einmal darum, ihr Interesse zu wecken und sie mit einer neuen Fremdsprache vertraut zu machen. Sobald wir diese Phase abschlossen, ging es eher in die Materie. Es bildeten sich vier Gruppen unterschiedlichster Niveaus, bis uns gegen Ende des Jahres einige unsere Schüler*innen auch gerne mal auf Englisch begrüßten und mit dem überschaubaren neu erlernten Vokabular sogar ein wenig Smalltalk mit uns hielten. Der Englischunterricht war in den Grenzen unserer Fähigkeiten ein durchaus ausdauerndes und erfolgreiches Projekt, das so hoffentlich auch in Zukunft weitergeführt werden kann. Selbst initiiert haben meine Mitfreiwillige und ich einen Buchclub für eine Gruppe an Kindern aus allen Altersklassen. Beim Thema Lesen gab es sowohl Bedarf an movierenden Aktivitäten für das jüngere Publikum als auch an unterstützendem Alphabetisierungsunterricht für diejenigen unter den Jugendlichen, die bisher noch keine Möglichkeit haten, die spanische Sprache zu lesen oder schreiben zu lernen. Dieses Herzensprojekt haben wir trotz mancher Stolpersteine bis zum Ende durchgeführt und auch hier gemeinsam tolle Fortschritte gemacht.

Meine absolute Lieblingsaktivität bestand darin, über den psychologischen Bereich im

Zentrum den Kontakt zu Kind und Familie zu pflegen, diese zuhause zu besuchen und bei Problemen behilflich zu sein. Die Psychologie ist schon seit längerem ein Themengebiet

meines Interesses und die viele praktische Erfahrung im für mich neuen Feld der Psychopädagogik hat mir eigenes an Wissen übermittelt, das ich vorher nicht hate. Mit jeder einzelnen Runde, die ich meist zusammen mit meiner Mitfreiwilligen und den Psychologinnen oder dem Sozialarbeiter des Zentrums durch die umliegenden Wohngebiete machte, lernte ich über den Umgang mit Armut, Not und Ungerechtigkeit. Dinge, die es auf der Welt in einem Ausmaß gibt, das man sich als eine durchschnittliche, junge, deutsche Frau nicht ansatzweise vorstellen kann. Die Art des Ortes nennt sich Batey, es handelt sich dabei um ehemalige Siedlungen von hauptsächlich haitianischen Arbeitern auf Zuckerrohrplantagen und ihren Familien. Heutzutage sind diese Wohnorte hauptsächlich für Menschen der untersten Schicht in der DR. Um auch in Zukunft, ein enges Zusammenarbeiten zwischen den Familien hier im Batey Bienvenido und dem Zentrum zu ermöglichen, haben Friedi und ich eine digitale Karte erstellt, auf der alle über das Jahr besuchte, Adressen markiert sind. So erzielten wir deutliche Fortschritte beim Kennenlernen von Familien, die vorher nie besucht wurden. Für mich war diese Arbeit des Auaus eines beständigen und vertrauensvollen Kontakts zu den Menschen aus der Gemeinde von höchster Priorität.

Zu guter Letzt erwähnt sein möchte meine Aktivität als Fotografin für die Fundación. Ich habe schon immer gerne Fotos geschossen, doch während meines Freiwilligenjahres hat sich daraus fast ein Beruf entwickelt. Zumindest habe ich durch meine tägliche Verantwortung, Material für die Präsentation der Fundacion in den sozialen Medien zu schaffen, viele neue Fähigkeiten im Bereich Fotografie erlernt und bin auch hierüber sehr glücklich. Ebenso wie die Fundación glücklich mit dem vielen neuen Bildmaterial ist.

Ich durfte in diesem Jahr erstmals Erfahrungen in der Arbeitswelt sammeln und mich daher völlig neu erfinden. Meine Position als Freiwillige ermöglichte es mir, in die verschiedensten Bereiche einzutauchen und meine Stärken und Interessen zu entdecken. Die Arbeit in ERA ist für mich von Sekunde eins an eine Herzensangelegenheit gewesen.

Für’s Leben

Ich erkundete das Jahr über die ganze halbe Insel. Zumindest fast. Auf meiner Karte sind all diese Orte markiert, die ich auf meinen Reisen ansteuerte: Baní, Barahona, La Romana, Juan Dolio, Las Terrenas, Pedernales, Polo, La Descubierta, Miches, Yamasá, Ocoa und vieles, vieles mehr. Meist war ich über die Wochenenden in Begleitung anderer Freiwilliger unterwegs. Einmal besuchte mich sogar meine Familie aus Deutschland. Gemeinsam sahen wir nicht nur unglaublich viel von der DR, sondern lernten über Mensch und Kultur. Unterwegs gewann ich Erfahrungen und Freundschaften fürs Leben.

Die Menschen in der Karibik sind offenherzig, lebenslang und gutmütig. In den meisten Gegenden spielt sich das Leben auf der Straße ab: Hier begegnen dir spielende Kinder, tratschende Frauen, grölende Verkaufsleute, klirrende Dominosteine, lebensmüde

Motoradfahrer, ohrenbetäubend laute Volksmusik und andere Eigenheiten des

Dominikanischen Alltags. Ich selbst wohnte in Los Alcarrizos, dem größten Hauptstadtviertel von gefährlichem Ruf. Wir Freiwilligen fielen auf und bekamen dies mehr als genug zu hören, doch gewann man mit der Zeit viele Sympathien in der Nachbarschaft. Meine Gastmutter Ada gab mir für ein Jahr Herberge in ihrem Haus und wuchs mir sehr an Herz. Ihre Töchter, Enkelkinder, Brüder, Schwestern wurden zu meiner eigenen Familie.

Das Jahr über schloss ich Freundschaften mit Menschen verschiedensten Alters, ob mit meinen Gastgeschwistern, Nachbarsleuten, Arbeitskolleg*innen, Kindern im Zentrum, Kirchenmitgliedern, Bekanntschaften auf Reisen etc. Viele davon sind für mich sehr wertvoll für meine Integration gewesen, doch am konstantesten und damit am wertvollsten in diesem Jahr waren für mich die Freundschaften, die ich zu meinen Mitfreiwilligen entwickelt habe. Denn gemeinsam lernten, reflektierten und wuchsen wir an den Erfahrungen des bisher besten Jahres unseres Lebens.

Dankbarkeit

So, das war’s mit diesem Kapitel aus meinem Leben. Gerne würde ich noch daran weiterschreiben, doch wartet schon ein neues auf mich und sofern ich es schaffe, meine neue dominikanische Art zu bewahren, muss dieses auch gar nicht so schlecht werden, wie ich es anfangs eventuell befürchtete. Vor einigen Monaten stellte ich mir Fragen zur Selbstfindung, die ich noch nicht beantworten konnte. Hatte ich mich in diesem Jahr nun endlich selbst gefunden oder nicht? Wohl eher nicht, doch bin ich um ein Jahr näher dran, um ein Jahr Dominikanische Republik um genau zu sein. In diesem Jahr habe ich gelacht und geweint, gequatscht und geschwiegen, geliebt und verachtet, gelernt und versagt, gefunden und verloren und eben all diese Dinge, die man auf dem Weg zu sich selbst so tut.

Bleibt schließlich nur noch zu sagen, wie unglaublich dankbar ich für das Freiwilligenjahr bin und für die Menschen, mit denen ich es verbringen durfte, sowie für die, die es mir ermöglicht haben. ¡Muchas gracias!

Mehr Infos zu der Einsatzstelle findet du hier.

Fotocredits: @foto_instantaneas